The Longing im Test (PC): Die langsamste Reise der Welt

von Marco Mainz

Ein kleiner Schatten, ein alter schlafender König und 400 Tage Zeit. The Longing ist ein außergewöhnlicher Titel mit Anspruch.

Vielleicht ist es bereits der Titel, der das Spielprinzip des kleinen Titels von Studio Seufz am besten beschreibt. Die wie in Stein gemeißelten Buchstaben des in Versalien geschriebenen Titels, begrenzt von zwei Doppelpunkten, setzen den ersten Akzent, noch bevor überhaupt ein Wort zum Inhalt gefallen ist.

Dieser ist schnell zusammengefasst: Der Spieler steuert den Protagonisten des Spiels, den Schatten, durch eine unterirdische Welt, während er darauf wartet, dass sein König aus einem tiefen Schlaf erwacht.

Denn seine Macht ist geschwunden, seine prachtvollen Paläste verlassen und leer. Er muss 400 Tage schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen. Diese 400 Tage vergehen in Echtzeit. Sobald das Spiel zum ersten Mal gestartet wird, beginnt die Uhr in der oberen Bildmitte gemächlich herunter zu laufen.

Allerdings muss es nicht vierhundert Tage dauern, denn wie es scheint, gehen die Uhren unter der Erde anders: Zeit ist eben relativ. Unter gewissen Umständen vergeht sie in dreifacher Geschwindigkeit, normal oder sie bleibt schlicht und ergreifend stehen.

Die Welt langsam erkunden

Und doch ist Zeit das, was der Schatten in seiner dunklen Welt am meisten zur Verfügung hat. Mit nichts als einem großen Sessel, einem Bücherregal und einem Schreibtisch mit einer Sanduhr, die das Verrinnen der Zeit vor Augen hält, beginnt die langsamste Reise der Welt. Denn was bleibt noch, wenn alles, was von dir verlangt wird, das Warten auf ein fernes Ereignis ist? Richtig. Die Erkundung deiner Umgebung.

Im Gegensatz zu nahezu jedem anderen Spiel, das seinen Protagonisten mit atemberaubender Geschwindigkeit von Gegner zu Gegner hetzt, geht auch das mit quälender Langsamkeit vor sich. Beinahe meditativ bewegt sich der Schatten durch seine Welt. Mal verschmilzt er mit dem Dunkel seiner Umgebung, sodass nur seine leuchtend gelben Augen zu sehen sind, mal steht er wie ein Schattenriss vor einem monumentalen Bauwerk.

Denn es gibt viel zu entdecken. Nie war das Sprichwort so passend wie hier: steter Tropfen höhlt den Stein. Auch der langsamste Spaziergänger kommt an ein Ziel; und so erkundet der Schatten mit patschenden Schritten das schier unendliche Reich und entdeckt gigantische Hallen mit leuchtenden Kristallen, durchquert Pfützen oder klettert an Felsvorsprüngen empor.

 
Hin und wieder stößt er dabei auf ein Hindernis, dessen Überquerung die einzige Währung kostet, die ihm zur Verfügung steht: Zeit. Manchmal nur Minuten, so gilt es an manchen Stellen auch mehrere Tage zu warten, bis etwa sprichwörtlich Gras über die Sache gewachsen ist.

Schwarzer Humor funktioniert

Die Steuerung ist denkbar einfach: per Klick läuft der Schatten in die vorgegebene Richtung, ein Doppelklick lässt ihn zu der anvisierten Stelle gehen. Mithilfe von Strg wird mit Gegenständen interagiert. Ab und zu meldet sich der Schatten selbst zu Wort, seine köstlich schwarzhumorigen und doch tieftraurigen Kommentare werden unter der stetig tickenden Uhr eingeblendet. Wer sich darauf einlässt, der lacht und weint mit dem einsamen Protagonisten.

The Longing ist der erste größere Titel des deutschen Studio Seufz, das zuvor Kurzfilme und Videoclips produziert hat. Das Spiel ist laut der Entwickler von der Kyffhäusersage inspiriert. Derer zufolge schläft Kaiser Friedrich Barbarossa in einer Höhle unter dem Kyffhäuserberg, um eines Tages zu erwachen und sein Gefolge zu neuer Herrlichkeit zu führen. Die Statue des Königs ist an die Darstellungen in der echten Höhle angelehnt.

Folgerichtig erwacht die Umgebung im handgezeichneten, grobschraffierten Bilderbuchstil zum Leben. Alles ist in erdigen, dunklen Braun- und Grautönen gehalten, mit gelegentlichen Farbtupfern wie beispielsweise rosa Kristalle oder schimmernde Pilze. Das Bild wird stets eingerahmt von einem Menü, dessen Schrift aus den gleichen runenartigen Buchstaben besteht, in denen auch der Titel geschrieben ist. Diese Konsistenz passt perfekt in das Setting.

 
Per Pfeil lassen sich Orte einspeichern und jederzeit ansteuern, der Schatten läuft dann automatisch an den gewünschten Ort. Ebenso ist es möglich, ihn an einen zufälligen Ort laufen zu lassen. Keine Angst: die Rückkehr in die heimische Höhle ist immer möglich.

Lesenswerte Bücher, hörenswerter Soundtrack

Abseits der reinen Erkundung gibt es aber auch einige wenige Aktivitäten, denen man in seiner Zeit nachgehen kann. Der Schatten kann Kohlestücke, Moos oder Pilze sammeln und diese verwenden, es gibt verschiedene Bücher zu finden und Teile eines Musikinstruments sind über das Höhlensystem verstreut. Außerdem findet sich eine Spitzhacke, die weitere Erschließung möglich macht. Aber es handelt sich nicht um Achievements.

Nichts davon ist notwendig – wer mag, der setze sich in den Sessel und lese für den Rest der 400 Tage „Also sprach Zarathustra“. Denn die Bücher sind echt: so lassen sich beispielsweise Moby Dick, Die Gänsemagd oder Metamorphosis finden und lesen. Allerdings sind die Werke im Spiel lediglich auf Englisch lesbar. Wer allerdings mag, kann über den Steam Workshop alternative Texte herunterzuladen.

Die Vielfalt der zu entdeckenden Orte ist nicht groß, dafür aber umso einzigartiger. Und damit komme ich zu einem Punkt, den ich eigentlich schon viel früher erwähnen wollte, da er das Spiel erst komplett macht: der Soundtrack. Der Entwickler beschreibt ihn als „Dungeon Synth Music“, ein obskures Subgenre inspiriert von dunklem Raumklang und Black Metal. Ich würde es stattdessen als melancholisch und doch episch, bewegend und raumfüllend bezeichnen.

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Je nach Ort verändert sich die Musik: Mal dröhnt eine Tuba, mal erhebt sich die Stimmgewalt eines ganzen Chores, doch stets passt die Musik zur Umgebung und vermittelt eine Emotion, die das Grafische erst wirken lässt. Die Langsamkeit, die Sehnsucht nach einer längst vergangenen Pracht und die daraus resultierende Einsamkeit. All das vermag der Soundtrack zu transportieren.

Begleitet wird die Musik von den langsamen Schritten des Schattens, dem Plätschern von Wasser oder dem gemächlichen Schnarchen des steinernen Königs. Wem das Spiel zu eintönig ist, dem empfehle ich, sich einfach den Klängen hinzugeben.

Fazit

Selten hat ein Spiel solch eine Faszination auf mich ausgeübt wie The Longing. Allein die Abgrenzung eines Genres bereitet mir Kopfschmerzen. Der Begriff „Point & Click-Abenteuer in Echtzeit“ beschreibt zwar die Rahmenbedingungen korrekt, reicht aber nicht einmal annähernd aus, um die totale Einsamkeit des kleinen schwarzen Männchens zu beschreiben in seinen riesigen Hallen aus Stein…

Was auf die Zwerge Mittelerdes zutrifft, passt erst recht auf den Schatten, der manchmal schier zu verschwinden scheint vor dem Panorama eines riesigen tropfsteinartigen Höhlenkomplexes. Aufgrund des besonderen Spielprinzips hat das Spiel keine Schwächen, und selbst wenn, ich würde sie vermutlich als Teil des Konzepts begreifen. Egal, für Genre man sich letztlich entscheidet, ich würde es immer als einzigartig und hervorstechend beschreiben.

Wer nach einem Spiel sucht, das einen aus dem alltäglichen Stress reißt, das beeindruckt und das beinahe meditativ den Vorgang des Wartens auf ein neues Niveau hebt, das jedes Stehen an der Bushaltestelle belanglos aussehen lässt, der möge The Longing eine Chance geben.

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